Die Kommunikation von Politikerinnen und Politikern wurde bislang vor allem mit Blick auf die Massenmedien und öffentliche Auftritte erforscht. Wenig Beachtung fand hingegen die sehr intensive direkte Kommunikation mit Bürgern. Bereits Theodor Heuss erreichten Anfang der 1950er Jahre nach eigener Aussage rund 300 bis 400 Briefe pro Tag, während Spitzenpolitiker heute tausende Mails und Schreiben bekommen. Diese Bürgerpost wurde und wird meist systematisch inhaltlich erfasst und von Politikern aufgegriffen, um vermeintliche Stimmungen in der Gesellschaft auszumachen. Ebenso kümmern sich Politikerinnen und Politiker um Antworten, mitunter mit erstaunlichem Aufwand. Neben den Reaktionen aus ihren Büros werden mitunter unterschiedliche Ministerien eingeschaltet, um fachkundige Reaktionen zu verfassen, und einzelne Briefe persönlich beantwortet.
Unter dem Rahmenthema „Praktiken der Demokratie“, das die Stiftung seit 2019 verfolgt, sucht die Tagung mit ihrem Fokus auf Bürgerbriefe in mehrfacher Hinsicht einen neuen Blick auf die Geschichte der politischen Kommunikation und Demokratie. Während für gewöhnlich die Kommunikation der Eliten betrachtet wird, blickt die Konferenz auf einen „von unten“ angeregten politischen Austausch. Im Unterschied zur veröffentlichten Meinung rücken damit individuelle Positionen und Haltungen in den Vordergrund. Sie zeigen etwa, welche Erwartungen jeweils an Politiker gerichtet wurden, um Abhilfe bei Problemen zu schaffen. Andererseits geben sie Auskunft darüber, wie Politiker ihre Arbeit und die Leitlinien ihrer Parteien bei individuellen Problemen rechtfertigten und wie sie gegebenenfalls aus Einzelfällen Lösungen entwickelten. Da Politiker mit der Veröffentlichung ihrer Antworten rechnen mussten, sind die Schreiben als ein Spagat zwischen individueller Positionierung und genereller Amts- und Parteiräson anzusehen und als eine besondere Form der Bindung an die Bürger, die diese Schreiben aufbewahrten und über sie berichteten.
Die Tagung konzentriert sich dabei auf Schreiben von Privatpersonen, die nicht als direkte Vertreter einer Interessengruppe auftraten und sich an einzelne Politiker oder Ministerien wandten. Untersucht werden soll der Wandel dieser Kommunikation in den unterschiedlichen Staatsformen seit dem Kaiserreich, wobei Deutschland und die Bundesrepublik im Vordergrund stehen sollen. Die Kommunikation von einzelnen Spitzenpolitikern findet besondere Beachtung, wird aber um weitere Politiker, Ministerien und Behörden bis runter zur kommunalen Ebene ergänzt und eingeordnet. Der zeitliche Vergleich erlaubt Aussagen über Kommunikationsformen, gesellschaftliche Stimmungen und artikulierbare Probleme.
Termin: 19./20. Mai 2022
Veranstalter: Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus
Ort: Akdemie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim, Paracelsusstraße 91, Stuttgart
Tagungsleitung: Dr. Ernst Wolfgang Becker (Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus), Prof. Dr. Frank Bösch (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam)
Einführung
Prof. Dr. Frank Bösch (Potsdam)
Im Dialog mit dem Volk. Bürgerbriefe als Form der politischen Kommunikation
Sektion 1: Bürgerbriefe und Demokratisierung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Moderation: Dr. Ernst Wolfgang Becker)
- Prof. Dr. Hedwig Richter (München):
Devotion und Renitenz. Unklare Verhältnisse in Bürgerbriefen von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg - Dr. Volker Köhler (Darmstadt):
Vom Parteigenossen zum Minister. Eingaben und Bittbriefe an sozialdemokratische Amtsträger in Sachsen (1918–1925)
Sektion 2: Bürgerprotest, Lobpreisung und Denunziation im Nationalsozialismus (Moderation: Prof. Dr. Ewald Grothe)
- Prof. Dr. Wolfram Pyta (Stuttgart):
Bürgerbriefe an Hitler - Dr. Stefan Scholl (Mannheim):
Einschreibung. Die sprachliche Herstellung von Zugehörigkeit in Bittgesuchen und Beschwerdeschreiben während des Nationalsozialismus
Sektion 3: Eingaben als Demokratieersatz? Bürgerbriefe in der DDR (Moderation: Dr. Thorsten Holzhauser)
- Prof. Dr. Martin Sabrow (Potsdam):
Konsens und Kritik. Bürgerbriefe an Erich Honecker - Prof. Dr. Christina Morina (Bielefeld):
„Demokratie ist keine Geste der Staatsmacht gegenüber der Gesellschaft.“ Zur Analyse des Demokratie- und Bürgerselbstverständnisses im geteilten Deutschland anhand von Bürgerbriefen aus den 1980er Jahren
Sektion 4: Demokratieaufbau in der frühen Bundesrepublik (Moderation: Dr. Thomas Hertfelder)
- Dr. Ernst Wolfgang Becker (Stuttgart):
Demokratie als Lebensform? Bürgerbriefe an Theodor Heuss und Konrad Adenauer - Dr. Jörg Neuheiser (San Diego, über Video zugeschaltet):
Arbeitslosigkeit, Doppelverdiener und die NS-Vergangenheit – Bürgerbriefe an die Bundesregierung und die vergessene Krise der Arbeit in Westdeutschland 1949–1955 - Dr. Claudia Gatzka (Freiburg):
Lokale Partizipation am "modernen" Deutschland. Hamburger Wähler im Briefwechsel mit den „Volksparteien“
Sektion 5: Bürgerbriefe in polarisierten Zeiten (Moderation: Dr. Gudrun Kruip)
- Prof. Dr. Daniela Münkel (Berlin):
Briefe ohne Antwort. Die Stasi und Zuschriften von DDR-Bürgern an Bundespolitiker - PD Dr. Bernhard Gotto (München):
Rechts innen. Alltagsrassismus und „Ausländerpolitik“ in der Bürgerkommunikation von Franz Josef Strauß von den 1960er bis 1980er Jahren
Sektion 6: Im Zeitalter von Protestbewegungen und Bürgerinitiativen (Moderation: Prof. Dr. Frank Bösch)
- Prof. Dr. Philipp Gassert (Mannheim):
Zuschriften an die baden-württembergischen Ministerpräsidenten - Prof. Dr. Silke Mende (Münster):
„von ganzem Herzen an alle Sonnenblumen und Igel Menschen“. Grün-alternative Kommunikationsformen
Sektion 7: Die Bürger und die europäische und deutsche Einheit (Moderation: Prof. Dr. Hedwig Richter)
- Dr. Thomas Süsler-Rohringer (München):
Petitionen an das Europäische Parlament. Annäherungen an Prozesse der Europäisierung „von unten“ - Helena Gand (Berlin):
Emotionen und Zukunftserwartungen in Bürgerbriefen zur Deutschen Einheit
Öffentliche Abendveranstaltung
- Vom Bittbrief zur Hassmail? Bürgereingaben an die Politik in Zeiten von Social Media und Populismus. Podium mit: Antje Siebenmorgen (Bundespräsidialamt), Dr. Andrej Stephan (Mitarbeiter von MdB Dr. Karamba Diaby), Prof. Dr. Frank Bösch (Moderation)