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Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung 2024

13. Dezember 2024
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Andreas Reckwitz: Verluste. Eine Herausforderung für die liberale Demokratie

 

Im gut besuchten großen Tiefenhörsaal der Universität Stuttgart ging es am Abend des 11. Dezember um etwas, das alle kennen: Verlust. Für den Berliner Soziologe und Träger des Leibniz-Preises Prof. Dr. Andreas Reckwitz ist Verlust eine Schlüsselkategorie zum Verständnis der Moderne. Reckwitz geht von einem Grundwiderspruch aus, der seit gut 200 Jahren die gesamte die Moderne bestimmt.

 

Einerseits, so Reckwitz, sei die Moderne getrieben von eminenten Fortschrittsversprechen, das den Menschen unablässig die Verbesserung der allgemeinen Verhältnisse in Aussicht stellt: Technischer, sozialer und medizinischer Fortschritt würde das Leben vereinfachen, die Last der Arbeit und die Mühen des Alltags erleichtern, Krankheiten verhindern oder heilen helfen und die sozialen Verhältnisse spürbar verbessern. Die Zukunft ist gestaltbar und wird sich zum Besseren wenden – mit diesem Postulat vermochten die Großideologien des 19. und 20. Jahrhunderts Menschen zu mobilisieren. Unseren Kindern soll es dereinst besser gehen als uns – so lautet die populäre Variante des Fortschrittsversprechens. Dieser Fortschrittsdiskurs hat mit der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert begonnen und dauert bis heute an. 

 

Dieser vom Fortschrittsimperativ bestimmte gesellschaftliche Wandel lässt jedoch immer mehr soziale Tatbestände in zunehmendem Tempo veralten. So steht dem Versprechen auf Perfektionierung der Verhältnisse eine Erfahrung permanenter Verluste gegenüber: Der Verlust an Tradition und vertrauten Routinen im Zeichen von Rationalisierungsschüben, der Verlust an Identität im Zeichen der Mobilisierung der Gesellschaft, der Verlust an Arbeitsplätzen und Status im Zeichen ökonomischer Krisen, der Verlust an Sicherheit im Zeichen der Vermarktlichung, der Verlust einer verträglichen Umwelt im Zeichen der Klimakrise usw.

 

Dabei bilden sich, so der Soziologe, nicht selten „Gewinner-Verlierer“-Konstellationen heraus, in denen etwa absoluter oder relativer sozialer Abstieg als schmerzhafte Verlusterfahrungen registriert werden. So wird der „Loser“ zur -Sozialfigur der Spätmoderne. Da die Dynamik moderner Gesellschaften zum einen objektiv Verluste hervorbringt, zum andern aber auf der Seite der Subjekte die Sensibilität für die Wahrnehmung von Verlusten erhöht, spricht Andreas Reckwitz von „Verlustpotenzierung“. 

 

Weil Verluste dem Fortschrittsimperativ widersprechen, haben moderne Gesellschaften indessen Techniken der „Verlustinvisibilisierung“ hervorgebracht: Verluste gelten als Preis des Fortschritts, sie werden zu bloß temporären Verlusten erklärt, die zu einem späteren Zeitpunkt einen umso größeren Gewinn ermöglichen würden oder sie werden als Abweichung von der Norm relativiert.

 

Auf Grund des dramatischen Enttäuschungspotenzials, das den skizzierten Verlusterfahrungen eingeschrieben ist, droht den liberalen Demokratien Andreas Reckwitz zufolge ein permanenter Legitimationsverlust. In dieser Perspektive lässt sich der Populismus als Folge von „Verlusteskalationen“ beschreiben. Liberale Demokratien sind deshalb gut beraten, sich einer „nichtpopulistischen Verlustpolitik“ zuzuwenden. Diese könnte etwa darin bestehen, im Ausbau von öffentlichen Infrastrukturen gezielt „Verlustresilienz“ auszubilden und in einem „neuen Lastenausgleich“ Kompensationen zwischen Gewinnern und Verlierern zu ermöglichen.

 

Darüber hinaus käme es darauf an, die unbestreitbaren Qualitäten, die der Fortschritt hervorgebracht hat, im Sinne eines „Fortschrittserbes“ zu pflegen. Und schließlich könnte auch „Verlustakzeptanz“ eine Strategie des gesellschaftlichen Umgangs mit Verlusten sein: Statt Verluste unsichtbar zu machen, sollten sie thematisiert und „betrauert“ werden.

 

Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Universität Stuttgart.

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